Das Nadelöhr

23.05.2021

Für mich und die Kursgruppe fertigte ich eine Zusammenstellung an, die Anhaften und Vergebung miteinander in Beziehung setzt. Ich griff dafür auf das Symbol des Nadelöhrs aus dem Markusevangelium zurück. Die Liste ist weder vollständig noch abschließend, sondern soll die Zusammenhänge beleuchten und ein Gefühl dafür geben, um was es geht.

In der Geschichte der Menschheit wurden schon viele Wege und Konzepte ausprobiert. Auf der einen Seite wurde immer wieder mit Askese versucht, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen. Doch der totale Verzicht hat vielfach zu einem tiefen Gefühl des Verlusts geführt, statt zu Erleuchtung. Auf der anderen Seite hat auch ein ausschweifendes Leben im Überfluss die innere Leere über längere Zeit hinweg nicht auszufüllen vermocht. Die Suche nach Erleuchtung mit Hilfe von Drogen ist erfolglos, führt sie doch genau in die Gegenrichtung, noch tiefer hinein in Illusionen und gießt Material aus dem Unterbewusstsein in Fantasie-Erlebnisse. In Halluzinationen ist die Wahrheit nicht zu finden, denn Wahrheit ist Klarheit. Erkenntnis kann nur in einem ungetrübten Geist aufleuchten. Extremismus auf die eine oder andere Seite kann nicht zielführend sein, denn er verleiht der Illusion der Welt eine Wirklichkeit, die sie nicht besitzt, statt deren Bedeutungslosigkeit aufzuzeigen.

Dies musste auch der historische Buddha erfahren, aufgewachsen in einem riesigen Palast mit allem Überfluss und danach einen asketischen Lebensstil pflegend, so dass er schlussendlich auf den mittleren Weg eingeschwenkt war. Aus der antiken griechischen Philosophie ist die Idee der Mäßigung überliefert und der Kurs besagt: "Viele haben sich entschieden, der Welt zu entsagen, obschon sie nach wie vor an ihre Wirklichkeit glauben. Und sie haben unter einem Gefühl des Verlust gelitten und wurden dementsprechend nicht befreit. Andere wieder haben nichts als die Welt gewählt, und sie haben unter einem noch tieferen Gefühl des Verlusts gelitten, das ihnen unverständlich war. Zwischen diesen Pfaden gibt es noch einen anderen Weg, der wegführt von jeglichem Verlust, denn Opfer und Entbehrung werden beide rasch zurückgelassen. Das ist der Weg, der jetzt für dich bestimmt ist." (Ü-I.155.4:2-5:2)

Im Normalzustand wären wir in der stillen Mitte, frei jeden Anhaftens, wie im Handbuch für Lehrer als typische Eigenschaften der Lehrer Gottes beschrieben. Mit fortschreitender Praxis merken wir immer besser, wenn wir uns daraus entfernen und irgendwelchen Erwartungen anhaften. Das ist in etwa gleichbedeutend, wie wenn wir Gott sagen würden, dass Seine Schöpfung unvollkommen sei, uns etwas fehlte und Er deshalb etwas liefern müsste. Das Anhaften an Dingen und Erwartungen, ob positiv oder negativ, liefert Stoff für die Praxis der wahren Vergebung. Erwartungen sind immer auf die Zukunft ausgerichtet, auf Dinge, die ich erreichen oder vermeiden möchte. Sie müssen aus einem Zustand gegenwärtigen Mangels oder Unbehagens herrühren. Damit ist nicht das Lernen und das Aneignen von Kompetenzen gemeint. Lernen können wir immer nur jetzt.

Lernen im spirituellen Kontext führt langfristig zur Erfahrung der ewigen Gegenwart des wahren Seins. Um dahin zu kommen, müssen wir alles zu Bewusstsein bringen, was uns von dieser Erfahrung abhält. Das ist das Gegenteil von Verdrängen und Verleugnen. In spirituellen Kreisen kann es sehr wohl vorkommen, dass alles Negative verdrängt wird, sich die Leute wie glückliche Einfaltspinsel benehmen (Ken Wapnick - Spiel nicht im Sandkasten, Interview von Susan Dugan, Übersetzung Bernhard Gerstenkorn) und mich dabei ein Gefühl der Heuchelei beschleicht. Es ist nichts gegen die optimistische Grundhaltung einzuwenden, dass das Ziel letztendlich erreichbar ist. Aber wenn Optimismus zur Identifikation wird, besteht die Gefahr der Verdrängung, und das Verdrängte kann unerwartet wieder auftauchen und die Stimmung ins Gegenteil kippen. So bleiben wir in der Welt der Dualität gefangen. Die Wirklichkeit hat weder mit Optimismus noch Pessimismus zu tun, sondern ist vollkommene Liebe und wird durch Bereitwilligkeit im Überfluss erreicht.

Das Ego beschäftigt sich am liebsten mit der Vergangenheit und bekräftigt, dass die Zukunft nicht anders sein wird. Dann wird bedauert, was alles verpasst wurde, dramatisiert, was alles Schlimmes passiert ist und der Verlust unendlich vieler Dinge beklagt. Vieles davon hat mit Vergleichen zu tun. Vergleichen bedingt Urteilen. Davon lebt das Ego und wird am Leben erhalten. Doch die Liebe vergleicht nicht und steht jenseits von Gefühlen wie Stolz, Neid und Eifersucht. Alle Themen negativer wie positiver Erwartungen dienen der Vergebung. Jede Erwartung ist das Gefühl, dass jetzt etwas nicht stimmt. Ich kann dieses Gefühl erleben, ihm auf den Grund gehen und es loslassen. Ich spüre beispielsweise, wie ein Ärger in mir aufsteigt, mache mir bewusst, dass die Ursache in mir drin ist, lasse ihn los und wähle die Heilende Gegenwart in mir. Das Gleiche machen wir mit Träumen, Wünschen, Fantasien und Visionen. Denn ein Wunsch ist die Idee, dass die Dinge seien, wie sie nicht sind, dass sich etwas ändern müsse. Doch die Heilende Gegenwart ist jetzt hier, und wartet nur darauf, erinnert und angenommen zu werden.

Mit positiven Erwartungen kann die Idee verknüpft sein, dass unser Glück in äußeren Dingen gefunden werden kann oder von ihnen abhängt. Als exemplarisch gilt die Suche nach romantischen Beziehungen. Hinter der Verliebtheit steckt die Idee, dass das eigene Glück in jemand anderem gefunden werden kann. Doch wie lange dauert es jeweils, bis sich die rosa Brille wieder auflöst? "Er ist gar nicht in den anderen verliebt. Er glaubt nur, er sei ins Opfern verliebt. Und er verlangt, dass der andere für dieses Opfer, das er sich selber abverlangt, die Schuld annimmt und sich auch opfert. Vergebung wird unmöglich, denn das Ego glaubt, einem anderen vergeben heiße ihn verlieren." (T-15.VII.7.4-7)

Wie befreiend kann es dagegen sein, die Verantwortung für das eigene Glück nicht mehr jemand anderem aufbürden zu müssen und keine Opfer mehr zu verlangen. In der Zweierbeziehung kann man sich bewusst machen, dass man eigentlich zu viert unterwegs ist, ich und du und unsere jeweiligen Egos. Die Arbeit beginnt. Doch gibt es nur ein Ego. In anderen sehen wir nur die Widerspiegelung unseres eigenen Ego. Vergebung bedeutet, über den Irrtum, das Ego, hinwegzusehen und ihm dadurch keine Wirklichkeit zu verleihen. Immer, wenn uns jemand nervt, erfahren wir unseren eigenen Konflikt, und uns ist erneut eine Gelegenheit gegeben, ihn loszulassen. Wenn andere aus der Mitte abweichen, ist das immer ein Ruf nach Liebe, und unsere Reaktion sollte immer liebevoll sein, indem wir zu verstehen geben, dass nichts die Liebe behindern kann.

Beim Betrachten der Liste mag die Frage auftauchen, ob wir in dieser Welt überhaupt noch etwas tun können. Zum Beantworten dieser Frage müssen wir uns bewusst werden, dass das Leben für uns wie auf zwei Spuren verläuft. Die eine ist das, was wir alles tun, damit unsere Leben funktioniert, und die andere ist das, was wir darüber denken. Und hier beim Denken findet der Geisteswandel statt und setzt die spirituelle Praxis an. Der gute Rat ist also ganz einfach, normal zu sein und stoische Ruhe zu bewahren. Dieser Begriff geht auf die Stoa zurück. Die Stoa ist eine abendländische Philosophie, die mit Zenon von Kition um 300 v. Chr. in Griechenland ihren Anfang nahm. Sie zielt auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise ab und strebt durch Einübung emotionaler Selbstbeherrschung an, das Schicksal zu akzeptieren. Affektkontrolle führt zur Freiheit von Leidenschaften, zu Selbstgenügsamkeit und Unerschütterlichkeit und mündet in Seelenruhe. Mit einer Haltung in diesem Sinne können wir unseren täglichen Beschäftigungen nachgehen, alles genießen und schätzen wie zuvor, immer im Bewusstsein, dass unser Glück nicht davon abhängt. Je weniger wir urteilen, desto weniger nehmen wir die Dinge persönlich, brauchen uns nicht mehr so oft zu rechtfertigen, zu verteidigen und zu berichtigen. Gerade das Rechtfertigen läuft fast wie automatisch ab. Es geht aber nicht darum, unerwünschte Gedanken zu unterdrücken, sondern sich der Gedanken bewusst zu werden, sie nicht mehr ernst zu nehmen und loszulassen.

Wenn es mich stört, dass sich jemand rechtfertigt, dann übe ich für mich Vergebung und schenke ihm die Freiheit, sich so oft zu rechtfertigen wie er will. Wenn es der gesellschaftlichen Gepflogenheit entspricht sich zu entschuldigen, dann entschuldige ich mich, im Wissen, dass wir alle unschuldig sind. Ich muss keine komischen Verrenkungen machen, sondern kann mich der Situation entsprechend einfach ganz unauffällig verhalten. Innerlich weiß ich aber, dass ich mich auf das Nadelöhr zubewege. Der Durchgang in der Mitte scheint anfänglich sehr klein zu sein. Doch je weiter ich auf dem spirituellen Weg voranschreite, je mehr Erwartungen ich loslasse, umso größer wird der Durchgang in der Mitte.


Der folgende Auszug aus dem Buch METAPHYSIS aus Kapitel 2 - Form und Inhalt; Abschnitt: Verkaufe alles, gib es den Armen und folge mir nach - erläutert die Bedeutung des Nadelöhrs:

"Ins Reich Gottes einzutreten benötigt große Wachsamkeit gegenüber den Versuchungen der Welt", erklärte Jesus. "Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht, als dass ein Mensch in das Reich Gottes eingeht."

Die Apostel waren schockiert und fragten sich, was sie mit dem Verlassen ihrer Familien getan hatten, um Jesus zu folgen. "Wer kann denn erlöst werden?", fragten sie.

Jesus blickte in Liebe auf sie. "Kein Mensch kann sich selbst erlösen. Er muss alle Dinge an Gott übergeben. Für Menschen ist Erlösung unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich, sogar bis zur Erlösung." (Übersetzung von NTI Mk 10v17-31.27-34)

Für die Apostel scheint Jesus die Latte gleich noch etwas höher gelegt zu haben. Wie sie neigen auch wir dazu, die Dinge der Welt nach den Werten der Welt zu beurteilen. Gegenüber dieser Versuchung ist Wachsamkeit gefordert, denn im Reich Gottes sind Werte unbekannt, würden sie doch Ungleichheit bedingen.

Das Nadelöhr kann als Symbol für die Himmelspforte verstanden werden. Durch die Mitte, frei von Anhaftungen an Werten, gelangt man hindurch. Die Mitte steht für die reine Nicht-Dualität. Anhaften an Dingen, egal ob positiv bewertet, das sind die Begierden, oder negativ bewertet, das sind die Abneigungen, hält in der Welt der Dualität gefangen.

Das Kamel ist ein Lebewesen, das eine aufgebürdete Last mit großer Ausdauer in einer Karawane durch die Wüste trägt. Es ist ein Symbol für die innere Haltung auf dem spirituellen Weg, der Karawane des Heiligen Geistes zu folgen. Die Welt ist die Wüste, in der am Ende alles stirbt. Wie das Kamel, dem die Wüste nichts anhaben kann, können wir mit großer Ausdauer an ihr vorbeigehen. Die selbst auferlegte Last ist die Last des Urteils, die sich bei genauer Betrachtung immer als Selbsturteil herausstellt und manifestiert sich durch die Schwere des Körpers.

Der Himmel ist das Reich des reinen Geistes. Dort gibt es keine Körper, keine Menschen. Erlösung ist für den Geist und nicht für den Körper bestimmt. Der Weg der Erlösung ist die Transformation vom persönlichen menschlichen Wesen zum unpersönlichen göttlichen Wesen, dem Christus in uns. Alles Anhaften an den Dingen der Welt muss der Wahrheit, Gott, repräsentiert durch den Heiligen Geist, überbracht werden. Durch Weglegen des Urteils wird die Schwere des Körpers nachlassen und erstaunt werden wir feststellen, dass das Nadelöhr immer größer wird, je weniger an den Dingen der Welt angehaftet wird.

Jesus nachzufolgen bedeutet, alle vergänglichen Werte und alles Anhaften an den Dingen der Welt loszulassen und in allen Dingen der inneren Führung des Heiligen Geistes zu folgen. Dies ist der Geisteswandel, der es möglich macht, aus der inneren Quelle der Liebe allen Menschen Segen und bedingungslose Vergebung anzubieten.


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MEDEA, die verlorene Tochter © Bernhard Gerstenkorn
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