Das weinende Mädchen

04.04.2021

Eines schönen Herbstvormittags hatte ich wie so oft eine genaue Vorstellung, was ich machen wollte. Kurz vor elf würde ich mit dem Bus zum Hauptbahnhof fahren, auf die Bahn umsteigen und in einem Einkaufszentrum zu Mittag essen. Also verließ ich zeitlich das Haus und begab mich zur Bushaltestelle. Üblicherweise tauchte zuerst der Trolleybus in Gegenrichtung auf, hielt manchmal auf der anderen Straßenseite an, fuhr dann an mir vorbei, und erst danach erschien der Bus in meiner Fahrtrichtung. Mein Bus kam aber nicht. Dafür fuhren aus der Gegenrichtung gleich mehrere Busse an mir vorbei. Mein Bus kam immer noch nicht und mir ahnte, dass es auf der gegenüberliegenden Stadtseite womöglich zu einem Stau gekommen sein musste, da auf dieser Buslinie Straßenarbeiten ausgeführt wurden und die Straße teilweise nur einspurig befahrbar war. Ich sah schon kommen, dass ich wohl noch eine Weile auf den Bus würde warten müssen und wie sich meine Pläne in Luft auflösten. Statt mich innerlich verstimmen zu lassen, erinnerte ich mich daran, dass ich nicht wirklich wusste, was für mich das Beste ist. Ich ließ von meinem Plan ab und beschloss anzunehmen, was immer kommen möge. Dann kam endlich der Bus. Am Hauptbahnhof angekommen verblieben nicht einmal mehr zwei Minuten zum Umsteigen. Zu kurz. Ich ließ meinen Plan definitiv sausen und stellte mich darauf ein, zuhause selber etwas zu kochen. Zuerst ging ich aber noch zur Poststelle gleich bei der Bushaltestelle, um einen eingeschriebenen Brief abzuschicken. Danach wechselte ich auf die andere Straßenseite, um mit dem Bus ein Stück weit zurückzufahren und etwas für das Mittagessen einzukaufen.

Ich stieg in den Bus ein, der als erster in die Haltestelle einfuhr und stellte mich in der Nähe bei der Tür hin, da ich nicht weit mitfahren musste. Weitere Leute stiegen zu. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern setzte sich gleich mir gegenüber hin. Das etwa dreijährige Mädchen war am Heulen. Die Mutter versuchte ihm gut zuzureden und es zu beruhigen. Es war kein Ego-getriebenes Protestgeheul wie so oft bei kleinen Kindern, sondern ein schmerzbedingtes Weinen. Leiden. Ich konnte es mitfühlen. Schon beinahe gewohnheitsmäßig wandte ich mich innerlich an Jesus, um ihm zu übergeben und ihn die Situation von innen her lösen zu lassen. Doch diesmal schien es wie auf mich zurückzufallen. Es fühlte sich an, als ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, einen Schritt weiter zu gehen. Das weinende Mädchen sah nicht Jesus, sondern mich. Es lag an mir, die heilende Rolle gleich jetzt voll und ganz zu übernehmen und nicht mehr an Jesus zu delegieren. "Lehre nicht, dass ich umsonst gestorben bin. Lehre vielmehr, dass ich nicht gestorben bin, indem du aufzeigst, dass ich in dir lebe." (T-11.VI.7:3-4)

Wie ich es schon oft gelesen und geübt hatte, ging ich gedanklich in die stille Mitte, ins Zentrum des inneren Friedens, in meinen Heiligen Geist, und dehnte die heilende Gegenwart im uns alle verbindenden Geist aus. Gedanken wie "du bist unschuldig, in Wirklichkeit ist nichts passiert, die Trennung hat nie stattgefunden, was wir alle sind ist vollkommene Liebe" dehnte ich im uns alle verbindenden Geist zum weinenden Mädchen aus. Bei der nächsten Haltestelle stieg ich aus. Dabei bemerkte ich, dass sich das Mädchen etwas beruhigt hatte. Die Präsenz der heilenden Gegenwart schien es abgelenkt zu haben. "Heilen bedeutet also, die Wahrnehmung in deinem Bruder und dir selber dadurch zu berichtigen, dass du den HeiligenGeist mit ihm teilst. Das versetzt euch beide in das Himmelreich und stellt dessen Ganzheit in deinem Geist wieder her." (T-7.II.2:1-2)

Seit geraumer Zeit hatte mich die Frage beschäftigt, was meine Aufgabe sein könnte. Außer dem Studium und der Praxis der Spiritualität ging ich keiner Beschäftigung nach. Nun hatte mich also das weinende Mädchen gelehrt, die heilende Gegenwart zu manifestieren. "Dein Geist wird die Entscheidung treffen, sich mit dem meinen zu verbinden, und gemeinsam sind wir unbesiegbar. Du und dein Bruder werdet noch in meinem Namen zusammenkommen, und eure geistige Gesundheit wird wiederhergestellt werden." (T-4.IV.11:5-6) Mir wurde klar, dass ich die Aufgabe angenommen hatte, was auch immer damit verbunden sein möge. In meiner dritten Runde mit den Lektionen aus dem Übungsbuch schien die Bereitwilligkeit weiter gewachsen zu sein, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen. "Ich habe nichts an mir, was du nicht erreichen kannst. Ich habe nichts, was nicht von Gott kommt. Der jetzige Unterschied zwischen uns ist, dass ich nichts anderes habe. Dadurch bin ich in einem Zustand, der in dir nur potentiell vorhanden ist." (T-1.II.3:10-13) Die Praxis der heilenden Gegenwart immer häufiger zu Bewusstsein zu bringen wurde zu meiner vordringlichen Aufgabe, um meinem wirklichen Potential näher zu kommen und das Anhaften an restlos allen Dingen weiter abzubauen.

In der darauf folgenden Nacht hatte ich einen Traum, der zum Tagesgeschehen in direkter Beziehung stand: Ich befand mich auf dem Hausberg von Luzern, dem Pilatus, auf den ich im vergangenen Sommer mit der Bahn gefahren war. Es war an der Zeit, die nächste oder letzte Seilbahn nach Hause zu nehmen. Beim Bahnschalter in der Bergstation schaute ich den Fahrplan an und meinte gesehen zu haben, dass die nächste Fahrt in etwa zwanzig Minuten stattfinden würde. Um mich zu vergewissern, sagte ich zur Frau hinter dem Schalter: "Zwanzig Minuten dauert es also noch bis zur nächsten Fahrt?" "Nein, nein", erwiderte die Frau, "zehn Minuten". Dann verweilte ich mich in der Nähe der Bahnstation im Gedanken, diese Fahrt ja nicht zu verpassen und wachte auf. Demzufolge war ich davon ausgegangen, dass auf meinem spirituellen Weg noch etwa zwanzig Jahre vor mir liegen würden. Die Bereitwilligkeit, durch eine Vertiefung der spirituellen Praxis einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen, wie mich die Erfahrung mit dem weinenden Mädchen gelehrt hatte, schien den vor mir liegenden Weg verkürzt zu haben. "Das Wunder verkürzt die Zeit, indem es sie in sich zusammenfallen lässt und auf diese Weise bestimmte Zeitabschnitte in ihr eliminiert. Es tut dies jedoch innerhalb der größeren zeitlichen Abfolge." (T-1.II.6:9-10) Wenn ich also genauso beharrlich weitermachte, würde ich um die zehn Jahre brauchen, bis die heilende Gegenwart vollständig realisiert ist.

Es wird viel Wachsamkeit bedürfen, alle Versuchungen zu Bewusstsein zu bringen und mir dabei immer die Frage zu stellen, was ich wirklich will, und mich für das Wunder zu entscheiden. Denn wenn sich die Zeit verkürzen ließe, dann war auch das Gegenteil denkbar, indem ich Versuchungen nachgäbe und mich weltlich bedeutsamen Zielen zuwandte. In der spirituellen Grundlagenliteratur gibt es gleich mehrere Hinweise, dass beim Voranschreiten auf dem Weg eine Beschleunigung eintreten kann. Der Kurs meint dazu: "Es sieht vielleicht so aus, als hätten wir unserer Aussage widersprochen, die Offenbarung, dass der Vater und der Sohn eins sind, sei schon festgesetzt. Wir haben aber auch gesagt, dass der Geist bestimmt, wann dieser Zeitpunkt sein wird, und dies schon bestimmt hat. Und dennoch legen wir dir dringend nahe, Zeugnis für das Wort Gottes abzulegen, um die Erfahrung der Wahrheit und ihren Anbruch in jedem Geist zu beschleunigen, der die Wirkungen der Wahrheit auf dich wahrnimmt." (Ü-I.169.4) Ein weiteres Beispiel in Anlehnung an Shakespeare findet sich inNTI (The Holy Spirit's Interpretation of the New Testament): "Die Welt ist nicht wirklich. Sie ist wie ein Theaterstück, in dem Schauspieler ihre Rollen spielen. Nur dass im Theaterstück der Welt das Drehbuch vergessen wurde, so dass das Theaterstück sehr wirklich erscheint. Das Theaterstück hat viele Enden, Schlitzen gleich ins Drehbuch geschnitten, wo du dich entscheiden kannst, aus dem Theaterstück herauszutreten. Wenn du aber dem Theaterstück glauben schenkst und auf das Spielen deiner Rolle konzentriert bist, wirst du die Gelegenheiten für das Heraustreten verpassen." (Ac 25v1-12.3-7, Übersetzung aus Metaphysis)

Wenn ich auf dem spirituellen Weg bin und wirklich weiß, um was es geht, was meine Aufgabe ist und was ich zu lernen habe, dann kann ich durch die Begegnung mit einem weinenden Mädchen mehr lernen als in Jahrzehnten abgeschiedener Meditation oder durch die Unterweisung berühmter Gurus. Derjenige spirituelle Lehrer, der mich wirklich kennt, ist in meinem Geist: der Heilige Geist. Wenn ich bereit bin hinzuhören, werde ich meine Lektionen in der Außenwelt erkennen und dadurch lernen. Doch wie bin ich überhaupt zu dieser Erfahrung gekommen? Ich war umständehalber bereit, meine eigenen Pläne loszulassen und anzunehmen, was immer kommen möge. Demut. Leider fällt mir das nicht immer gleich leicht, ein weiteres Thema, an dem ich zu arbeiten habe. Zu oft meine ich genau zu wissen, was ich brauche und wie die Dinge zu geschehen haben. Demut bedeutet loszulassen. Demut bedeutet, mir einzugestehen, dass ich nicht weiß! Ohne Demut stehe ich mir selber im Weg und vergesse, dass meine wirkliche Aufgabe ist, die heilende Gegenwart zu manifestieren. "Gibt es denn eine Rolle für die Heilung, die man verwenden kann, um jemand anderem Hilfe anzubieten? In Arroganz muss die Antwort 'nein' sein. In Demut aber gibt es wahrlich einen Platz für Helfer. Er ist wie die Rolle, die beim Gebet hilft und die Vergebung das sein lässt, was sie sein soll. Du machst dich nicht zum Träger der besonderen Gabe, die die Heilung bringt. Du erkennst lediglich dein Einssein mit demjenigen, der um Hilfe ruft. Denn in diesem Einssein wird sein Gefühl der Getrenntheit zerstreut, und dieses ist es, das ihn krank gemacht hat." (L-3.III.4:1-7)

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MEDEA, die verlorene Tochter © Bernhard Gerstenkorn
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