Eine antike Tragödie

25.09.2020

In einem YouTube-Video und in einem Interview berichtet Ken Wapnick, dass sein größter spiritueller Lehrer Ludwig van Beethoven gewesen war. Im Gymnasium fing Ken an, seine Musik zu hören, und diese war sein Lehrer. Er spürte etwas in seiner Musik, in das er über einen längeren Zeitraum hineinwuchs. Im Gymnasium, in der Hochschule, an der Fachuniversität und darüber hinaus war ihm das sehr klar. Wichtiger als alles andere in seinem Leben war für ihn, immer näher an das zu gelangen, was er als das eigentliche Herz in Beethovens Musik spürte. Er meinte, dass das Ego ganz am Ende von Beethovens Leben verschwunden war; aus seinem Lebenslauf ist das nicht ersichtlich, aber man kann es vor allem in den letzten Quartetten hören. So sah Ken sein ganzes Leben an diesem Punkt als einen Prozess, in diese Musik hineinzuwachsen, bis er sich mit ihr eins fühlte. Als er sie im Gymnasium zum ersten Mal hörte, wusste er, dass er noch nicht dort war. Doch als er Ein Kurs in Wundern zum ersten Mal sah, war dieser Prozess bereits abgeschlossen.

Meine persönlichen Erfahrungen mit Beethovens Musik bestätigen, dass Beethoven auf dem spirituellen Weg war und deuten an, was ihn letztendlich darauf gebracht hatte, und darum geht es hier. Ich hatte zwei Beethoven-Biographien gelesen und ein Buch über Medea aus der griechischen Mythologie geschrieben, in welchem Beethoven als prominentes Beispiel für den Weg vom Mythos zu Logos vorkommt. Etwa ein halbes Jahr danach besuchte ich das Neujahrskonzert 2020 des Luzerner Sinfonieorchesters, in welchem Beethovens Violinkonzert mit dem Solisten Vadim Gluzman zwecks CD-Produktion gespielt wurde. Das erste Mal hatte ich dieses Werk im Konzert mit der Geigerin Arabella Steinbacher und den Festival Strings Lucerne gehört, und das war so bezaubernd gespielt, dass ich mich diesmal fragte, was ich wohl zu erwarten hätte, was es bedeuten könnte. Als der erste Satz erklang, fiel mir das harmonische Zusammenspiel zwischen Solisten und Orchester, geleitet vom Chefdirigenten James Gaffigan, auf. Und wie aus dem Nichts kam mir die Eingebung: "unsterbliche Geliebte".

Aus den Biographien geht hervor, dass Beethoven und Gräfin Josephine Brunsvik während der Zeit, in der unter anderem dieses Werk entstand, ineinander verliebt waren. Der Standesunterschied zwang sie jedoch, diese Beziehung geheim zu halten. Offenbar war er so stark von ihr angetan, dass sich dies in seinem Violinkonzert widerspiegelt, wie wenn er sie mit der Solostimme der Geige in den höchsten Tönen verehren würde. Ihre Beziehung schien, mit größeren Unterbrüchen, bis zum Lebensende anzuhalten. Im Gegensatz zu Maynard Solomon, der auf Antonie Brentano setzte, halten namhafte heutige Beethoven-Forscher aus triftigen Gründen Josephine Brunsvik für die wahrscheinlichste Adressatin von Beethovens späterem und nie angekommenem Brief an die "unsterbliche Geliebte". Damals war es gesellschaftliche Norm, einander mit "Sie" anzusprechen, auch in schriftlicher Korrespondenz. Erst wenn man miteinander geschlafen hatte, wechselte man zum "Du". Nach der zufälligen Begegnung in Prag auf dem Weg in den Sommerurlaub, die 1812 Beethovens Brief an die unsterbliche Geliebte zur Folge hatte, korrespondierten Beethoven und Josephine per "Du". Zudem bekam Josephine neun Monate später ein Kind, das den Namen Minona erhielt, die Umkehrung von "Anonim". Minona war von einer Statur wie Beethoven und musikalisch sehr begabt.

Doch zurück in die Zeit von 1804 bis 1807, als die beiden in einander verliebt waren. Sie sahen sich als Seelenverwandte und hatten Gemeinsamkeiten. Die verwitwete Josephine war eine begabte Pianistin und machte unter Beethovens Anleitung große Fortschritte. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie vier kleine Kinder. Ihre Mutterrolle hatte Vorrang und Beethoven musste sich mit einer platonischen Beziehung begnügen. Durch die Verbindung mit einem Nichtadeligen hätte sie ihren Titel und wahrscheinlich das Sorgerecht für ihre Kinder verloren. Im September 1807 bedrängte der überarbeitete und enttäuschte Komponist seine geliebte Josephine, um sie doch noch zu einer Heirat zu bewegen, was zum vorläufigen Ende der Beziehung führte. Allein und verlassen machte sich Beethoven an die Arbeit, die schon lange vorliegenden Entwürfe zur 5. und 6. Sinfonie auszuarbeiten.

Die einzig gesichert zu scheinende Aussage Beethovens zur 5. Sinfonie lautet: "sie sei mit der antiken Tragödie verbunden." In der antiken Tragödie geht es um große, aber eben gescheiterte Liebesbeziehungen wie Orpheus und Eurydike, Medea und Jason, Aphrodite und Adonis etc. Genau das erlebte Beethoven zwischen 1804 und 1807 mit Josephine. Die Umstände zwangen sie, Einschränkungen in ihrer Beziehung hinzunehmen. Aus Beethovens Sicht schien dies anfänglich nicht ein so großes Problem gewesen zu sein, und er muss sich gedacht haben: das ist es, "Ta-ta-ta-taaaa", wir sind das perfekte Paar. Wenn also Beethoven im Violinkonzert ein Loblied auf Josephine singt, beinhaltet die 5. Sinfonie folgerichtig sein Erleben der Beziehung, deren Abbruch und eine finale Überraschung. Der 1. Satz widerspiegelt den Auftakt ihrer Beziehung, die starken Gefühle pochenden Herzens und zarte romantische Melodiebögen unschuldiger Verliebtheit, doch wie in der echten antiken Tragödie lag darauf ein Schatten, deshalb nicht Dur, sondern Moll.

Im 2. Satz bekommt die Beziehung Risse und bricht auseinander. Das Drama von Beethovens Tragödie nimmt Fahrt auf und erreicht im 3. Satz ihren Höhepunkt. Zu dieser Erfahrung kam ich 2013 in einem Konzert am Lucerne Festival, gespielt vom Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung des Dirigenten Pablo Heras-Casado. Im 2. Satz hörte ich buchstäblich, wie Beethoven alles in Frage stellte, sein Weltbild in sich zusammenbrach und nichts mehr einen Sinn ergab. Heute ist mir natürlich klar, dass das eine Folge des Beziehungsabbruchs war. Im 3. Satz herrschte Betrübnis. Auf der Suche nach einer Antwort schaute er auf sein Leben zurück; er findet keine. Im weiteren Verlauf breitete sich beklemmende Düsterheit aus, als ob etwas in ihm sterben, alle Energie von ihm weichen würde.

Am tiefsten Punkt angekommen, erklangen leisen Paukenschläge, und die Musik drehte um 180 Grad, vom dunkelsten Dunkel in die hellste Helligkeit voller Energie: der 4. Satz, die Antwort! Die immense Erleichterung war mit Händen zu greifen. In nicht enden wollenden Jubel- und Fanfarenklängen verlieh Beethoven seiner wohl tiefgreifendsten Erfahrung, der Offenbarung des Absoluten, des Ewigen, seinen Ausdruck. Diese Offenbarung ist nicht zu verwechseln mit derjenigen aus dem Neuen Testament, die eigentlich eine Vision ist und sich tiefenpsychologisch deuten lässt. Eine Offenbarung geschieht nicht einfach so aus heiterem Himmel, sondern wenn sie auf dem Lebensweg hilfreich ist. Dazu muss eine innere Bereitschaft vorhanden sein, wie die Suche nach der Wahrheit, und das könnte hinter dem Vorwärtsdrang in Beethovens Musik stecken.

Beethoven hatte Erlösung in der Beziehung zu Josephine gesucht, was das Thema des 1. Satzes ist, und durch die Offenbarungserfahrung gelernt, wo sie wirklich zu finden ist. Als Beleg, dass er diese Spur konsequent weiterverfolgt hatte, dienen einerseits drei von ihm selbst sauber aufgeschriebene und gerahmte Sinnsprüche, die er auf seinem Schreibtisch aufbewahrte:

 Ich bin, was da ist.

 Ich bin alles, was ist, was war, was sein wird; kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.

 Er ist einzig und von Ihm selbst, und diesem Einzigen sind alle Dinge ihr Daseyn schuldig.

Doch der stärkste Beleg sind seine Spätwerke. Im Gegensatz zu anderen Komponisten wie Schubert Chopin, Tschaikowsky etc. widerspiegeln seine Kompositionen nicht den inneren Weg in den Tod. In der 9. Sinfonie besingt der inzwischen gehörlos gewordene Beethoven die Freude; das ist quasi sein Requiem. Im Streichquartett Nr. 14 Opus 131 in cis-Moll transzendiert er die Zeit und findet laut Ken Wapnick den Frieden, der nicht von dieser Welt ist.

Nach der 5. Sinfonie stellte Beethoven die 6. Sinfonie "Pastorale" fertig. Beide wurden im Dezember 1808 zusammen mit anderen Werken uraufgeführt. Während die 5. aufwühlend dramatisch ist, verströmt die 6. eine ruhige Gelassenheit. Als einleitende Musik verwendete Ken Wapnick in seinen YouTube-Videos neben der Kleinen Nachtmusik von Mozart den Anfang der 6. Sinfonie Beethovens. Im Wissen um Kens Bezug zu Beethoven dachte ich mir ungefähr Anfang 2011, dass da mehr dahinter stecken müsse. Neugierig hörte ich mit dem Notebook eine alte Schwarzweißaufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Herbert von Karajan auf YouTube an. Fast regungslos horchte ich aufmerksam in Erwartung, was es wohl sei, weshalb er genau diese Musik von Beethoven als Einleitung verwendete. Die Musik kam mir vertraut vor. Während des zweiten Satzes war plötzlich eine Verbindung da, die Verbindung im gemeinsamen Ziel. In diesem Moment war ich im Geiste wie eins mit Beethovens Geist und erlebte, wie er entschlossen und unumkehrbar auf das eine Ziel ausgerichtet sich innerlich auf dem Weg befindet, und erlebte mich, wie wenn ich mich zum selben Ziel verpflichtet hätte, alternativlos gar nicht anders kann und will, als mich kompromisslos diesem einen Ziel anzuschließen.

Diese metaphysische Erfahrung war meine erste mit Beethovens Musik und deckt sich mit Ken Wapnicks Erfahrung. Es ist der Vorwärtsdrang zum einen Ziel, der in seiner Musik zu hören ist. Als ich etwa zwei Jahre später wieder einmal ein Wapnick-Video mit der 6. als Einleitung hörte, beschaffte ich mir eine CD-Box mit der Gesamteinspielung der Sinfonien und nahm mir Zeit, in Ruhe der Reihe nach in alle hineinzuhören. Dabei wurde mir die Bedeutung des letzten Satzes aus der 5. Sinfonie wie oben beschrieben klar.

Klingt die 5. Sinfonie nicht ganz anders, wenn sie als antike Tragödie von Beethoven und Josephine gehört wird? Und wie ist diese Lesart einzuordnen? Etablierte Deutungen verweisen gern auf den zweifelhaften Ausspruch "So pocht das Schicksal an die Pforte" von Beethovens Schüler und Biographen Anton Schindler. Eine wichtige Quelle stellen Beethovens Konversationshefte dar, die er infolge seiner Ertaubung notgedrungen anlegen musste. Inzwischen wurden diese Hefte kriminaltechnisch untersucht. Es wurden drei verschiedene Handschriften identifiziert. Ein davon konnte Beethoven zugeordnet werden. Die anderen beiden haben Anton Schindler als Betrüger entlarvt.

Hinweis: Dieser Text inklusive Quellenangaben steht unten als PDF im Format A4 hoch und quer zum Download bereit.


MEDEA, die verlorene Tochter © Bernhard Gerstenkorn
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