Harmlosigkeit

10.09.2020

Harmlosigkeit und Unschuld gehören für mich zusammen und erinnern mich an das Symbol vom Lamm. Jesus wurde als Lamm Gottes bezeichnet, als Symbol der Unschuld. "Der Löwe und das Lamm, die beieinander liegen, symbolisieren, dass Stärke und Unschuld nicht miteinander in Konflikt sind, sondern von Natur aus in Frieden miteinander leben." (T-3.I.5:3)

In der vollkommenen Harmlosigkeit liegt die größte mir zu Verfügung stehende Stärke. Harmlosigkeit bedeutet, die Fähigkeit angreifen zu können, vollständig loszulassen, physisch, verbal und vor allem in Gedanken. Die Unfähigkeit angreifen zu können, schließt spiegelbildlich die Unfähigkeit sich verteidigen zu können oder müssen, mit ein. In der Verteidigungslosigkeit resp. der Wehrlosigkeit liegt meine wahre Stärke. Denn wenn es etwas zu verteidigen gäbe, wäre in mir der Wunsch gegenwärtig, dass die Dinge seien, wie sie nicht sind. "Die Wirklichkeit aller Dinge ist völlig harmlos, weil völlige Harmlosigkeit die Bedingung ihrer Wirklichkeit ist. Sie ist auch die Bedingung dafür, dass du ihrer Wirklichkeit gewahr bist." (T-8.IX.2:1-2)

Die Wirklichkeit bedarf keiner Verteidigung. Sie ist einfach. Und da sie keiner Verteidigung bedarf, kann sie auch nicht angegriffen werden. Bei einem Angriff würde sie einfach aus dem Gewahrsein entschwinden. Und hier liegt mein scheinbares Problem. Mir ist die Wirklichkeit abhanden gekommen. Die Wirklichkeit kann nur im Zustand vollkommener Harmlosigkeit wieder erkannt werden. Also muss ich lernen, vollkommen harmlos zu werden, um die Bedingung für die Erkenntnis zu erfüllen. Wenn ich mich in den Gedanken der Harmlosigkeit vertiefe, breitet sich in meinem Geist Frieden aus. Dazu brauche ich gar nichts zu tun, ein weiterer Gedanke, der damit zusammenhängt.

"Irgendetwas tun bezieht den Körper ein. Wenn du begreifst, dass du nichts zu tun brauchst, hast du den Wert deines Körpers aus deinem Geist abgezogen. Hier ist die schnelle, offene Tür, durch die du an Jahrhunderten der Anstrengung vorbeischlüpfst und der Zeit entrinnst. Nichts tun heißt ruhen und einen Ort in dir schaffen, an dem die Aktivität des Körpers aufhört, Aufmerksamkeit von dir zu fordern. An diesen Ort kommt der Heilige Geist und dort weilt er." (T-18.VII.7:1-3,7-8) Im Gedanken der Harmlosigkeit nähere ich mich dem stillen Zentrum im Inneren, wo Ruhe und Frieden herrschen. Ich mache es mir zur Gewohnheit, diese Gedanken bei meinen häufigen Spaziergängen anzuwenden und in Harmlosigkeit in die stille Mitte des Geistes einzutauchen.

In diese Übung kann der Körper einbezogen werden. Wenn ich mich durch eine Menschenmenge bewege, ist mein Geist dauernd damit beschäftigt, sich zu überlegen, ob ich der vor mir auftauchenden Person nach rechts, links, oder gar nicht auszuweichen brauche. Oftmals zeitigen diese Abwägungen ein falsches Ergebnis, weil die Person, die mir entgegenkommt, sich nicht wie vorgestellt verhält, und nur mit Mühe im jeweils letzten Moment ein Zusammenstoßen verhindert werden kann. Mein vom Einssein abgesondertes Denken ist somit nachweislich fehlerhaft. Wie wäre es, gar nichts zu denken? Ich beginne, einfach im Bewusstsein der vollkommenen Harmlosigkeit aus der stillen Mitte heraus mir dabei zuzuschauen, wie ich mich durch die Menschenmenge bewege, ohne dabei etwas zu denken, ohne irgendwelche Abwägungen zu treffen. Erst erfordert es bewusste Konzentration, aber dann bewege ich mich mit Leichtigkeit durch die Menschenmenge. Es ist fast schon erstaunlich, dem Körper beizuwohnen, wie er manchmal ausweicht, manchmal auch nicht, das Verhalten der entgegenkommenden Person fehlerfrei voraussieht, ohne je zusammenzustoßen. Es ist tatsächlich so, wie wenn ich einem Film zuschauen würde.

Die Praxis der Harmlosigkeit verleugnet die Interpretation des Ego, dass die mir entgegenkommende Person meinem Voranschreiten im Wege steht, mein Gegner oder Feind ist, und ich mich zu verteidigen brauche. Die Ergebnisse dieser Praxis sind so überzeugend, dass ich mich unter Menschen immer wieder daran zu erinnern versuche, ganz bewusst nichts zu denken und harmlos zu sein. Dadurch lasse ich mich durch die anderen an meine Harmlosigkeit und ihre eigene erinnern. "Die einzige Sicherheit liegt darin, den Heiligen Geist auszudehnen, denn sowie du seine Sanftmut in anderen siehst, nimmt dein eigener Geist sich selbst als völlig harmlos wahr." (T-6.III.3:1)

Wenn ich mich daran erinnere, ist es jeweils wie wenn ein Schalter umgelegt wird und alles ist harmlos. Ich kann nie eine Person als harmlos und gleichzeitig eine andere daneben als gefährlich betrachten. Harmlosigkeit ist nie selektiv. Sie ist immer total, entweder alles oder nichts, mich eingeschlossen. Darin ist sie gleich wie die Erkenntnis. Irgendwann macht sich aber die unbewusste Schuld wieder bemerkbar, indem unreine Gedanken in Form von Angriffs- oder Verteidigungsgedanken auftauchen. "Die notwendige Bedingung für den heiligen Augenblick ist nicht, dass du keine unreinen Gedanken hast. Sie ist jedoch, dass du keine hast, die du behalten möchtest." (T-15.IV.9:1-2) In die Harmlosigkeit einzugehen scheint dem heiligen Augenblick zu entsprechen. Die Gedanken, die mich daraus entfernen, bieten sich für die Praxis der wahren Vergebung an. Ich kann mir die unreinen Gedanken bewusst machen, sie loslassen und mich wieder nach innen an den Heiligen Geist wenden.

In der Harmlosigkeit wird etwas vom Urzustand des reinen Geistes erfahren. Die Eigenschaft der Harmlosigkeit scheint als Bedingung für das Erlangen der Erkenntnis bedeutsam zu sein, weil sie im Kurs oft angesprochen wird, auch im Zusammenhang mit Heilung und als Voraussetzung, wirklich hilfreich sein zu können. "Gott wird jedesmal gepriesen, wenn irgendein Geist lernt, ganz und gar hilfreich zu sein. Das ist unmöglich, ohne ganz und gar harmlos zu sein, weil die beiden Überzeugungen nebeneinander bestehen müssen. Die wahrhaft Hilfreichen sind unverletzbar, weil sie ihre Egos nicht schützen und sie somit nichts verletzen kann." (T-4.VII.8:1-3)

Im Bewusstsein der Harmlosigkeit kann ich mir vorstellen, über Körper hinweg zu sehen und nur noch auf die großen Strahlen zu schauen. Nur die Harmlosigkeit zu sehen heißt die großen Strahlen zu sehen. Der Wille zur Harmlosigkeit entspricht dem Annehmen der Sühne. "Die Sühne ist der Inbegriff der Harmlosigkeit und gießt nur Segen aus." (T-3.I.7:2)

Wenn ich mich in die Harmlosigkeit begebe, das Denken weglege und der inneren Führung folge, ist es, wie wenn ich meinen eigenen freien Willen beiseite lege. Das ist die Voraussetzung, denn Konfliktfreiheit schließt das Vorhandensein von mehr als einem einzigen Willen aus. Und Harmlosigkeit ist frei von Konflikt. Doch wie mit diesem Üben erfahren werden kann, ist der getrennte freie Wille sowieso nur eine vom Ego hochgehaltene und eingebildete Illusion. Und wirkliche Freiheit werden wir nur im grenzenlosen reinen Geist erleben.

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