Partitur

25.12.2020

Eines Abends, ohne konkrete Vorstellung, was ich nach dem Abendessen zu tun gedachte, kam mir eine Melodie in den Sinn. In Gedanken griff ich die Melodie auf und summte sie innerlich mit. Was für eine Musik war das doch gleich nochmal? Ach ja, Tschaikowskys erstes Klavierkonzert. Nachdem ich erledigt hatte, woran ich eben noch dran gewesen war, legte ich die CD mit Tschaikowskys berühmtem, virtuosen Klavierkonzert ein, setzte mich entspannt und bequem aufs Sofa und hörte aufmerksam zu, wie sich das musikalische Feuerwerk entfachte. Die Musik konnte mich voll einnehmen. Während sich die Klänge durch den Raum um mich herum ausbreiteten, tauchte ich innerlich wie durch die Musik hindurch in den vollkommenen Frieden ein, wie ich ihn noch mit keiner Meditationsmusik erlebt hatte. Das war insofern erstaunlich, als unter Meditationsmusik eher bedächtig gleichmäßig rhythmische Musik verstanden wird und Tschaikowskys Klavierkonzert mit seiner unbändigen Lebendigkeit und Sprunghaftigkeit so ziemlich dem genauen Gegenteil entspricht.

Als ich danach über das Erlebnis nachdachte, kam mir die Parallele zu Ken Wapnicks Beethoven-Erfahrung mit dem 14. Streichquartett Opus 131 in Erinnerung. Was für Ken mit Beethoven funktioniert hatte, schien bei mir mit Tschaikowskys erstem Klavierkonzert funktioniert zu haben. Dies scheint mein Weg zu sein, der inneren Führung zu folgen. Ich erinnerte mich an die Geschichte dieses Klavierkonzerts und sah eine verblüffende Parallele zu Ein Kurs in Wundern.

Tschaikowskys erstes Klavierkonzert markiert den Anfang seiner großen Karriere. Vor der Veröffentlichung spielte er es seinem hochverehrten Lehrer und Gönner Nikolaj Rubinstein vom Petersburger Konservatorium am Klavier vor. Er spielte den ersten Satz, nicht ein Wort, nicht eine Bemerkung, fand die Kraft, das ganze Konzert durchzuspielen, weiter Schweigen, erhob sich vom Klavier und fragte: "Nun?" Da ergoss sich ein Strom von Worten aus Rubinsteins Mund. "Das Konzert sei wertlos, völlig unspielbar. Die Passagen seien bruchstückhaft, unzusammenhängend und armselig komponiert, dass es nicht einmal mit Verbesserungen getan sei. Die Komposition selbst sei schlecht, trivial, vulgär. Hier und da hätte er von anderen stibitzt. Ein oder zwei Seiten vielleicht seien wert, gerettet zu werden; das Übrige müsse vernichtet werden oder völlig neu komponiert werden."

Er dachte nicht im Geringsten daran, das Konzert im Sinne Rubinsteins umzuarbeiten. Dann sandte er die Partitur dem berühmten Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow, der zu seiner Verblüffung völlig anders reagierte: "Dieses herrliche Kunstwerk ist in jeder Hinsicht hinreißend. Die Ideen sind so originell, so edel, so kraftvoll, die Details so interessant. Die Form ist so vollendet, so stilvoll - in dem Sinne, dass sich Absicht und Ausführung überall decken." Bülow spielte 1875 auch die Uraufführung des Konzerts in Boston, danach in New York und in anderen Städten Europas. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Rubinstein sollte Jahre später zu einem der wirkungsvollsten Interpreten dieses Stücks werden. (Booklet, Naxos CD 8.550819, Tschaikowsky, Klavierkonzerte, Teresa Pieschacón Raphael, Seite 8, 1996) Anhand meines Erlebnisses könnte ich mir vorstellen, dass Tschaikowsky in dieser Schaffensperiode in Frieden mit sich selbst war. Heutzutage gehört Tschaikowskys erstes Klavierkonzert zu den beliebtesten Werken dieser Gattung in den Konzertsälen.

Ein Kurs in Wundern scheint eine ähnliche Geschichte zu durchlaufen. Von der ersten Instanz, der akademischen, christlichen Theologie und offiziellen Kirche, wurde er rundweg abgelehnt und in die esoterische oder sektiererische Ecke gestellt. Doch der Mitgliederschwund der Kirchen zeigt, dass sich immer weniger Menschen von der institutionalisierten Theologie und Kirche angesprochen fühlen und sich entweder ganz von der Religion abwenden oder auf eigene Faust auf die spirituelle Suche begeben. Die christliche Theologie basiert auf den Lehren von Paulus, nicht von Jesus. Sie ist im wesentlichen eine Neuinterpretation des alten Testaments, indem alte Ideen auf Jesus umgedeutet wurden, beispielsweise, dass ein Unschuldiger für die Sünden der Welt den Opfertod erleiden muss, um die Menschheit zu erlösen. Die sich neu bildende christliche Religion wurde, wie in der Geschichte immer wieder, von den Herrschenden instrumentalisiert und daraus eine Lehre formuliert, mit dem Zweck der Kontrolle und des Machterhalts der Herrschenden. Der Titel Pontifex Maximus bezeichnete ursprünglich den obersten Priester im altrömischen Reich und ging später nicht zufälligerweise auf den römischen Kaiser und danach auf den Papst über. Nachdem der Kanon des Neuen Testaments festgelegt war, wurden alle Quellen rigoros vernichtet. Oder anders ausgedrückt, das Ego hat sich die Kontrolle über das Geschehen wieder gesichert, welche mit dem Auftreten von Jesus von Nazareth außer Kontrolle zu geraten schien. Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass es nur einen Geist gibt, der scheinbar gespalten ist, und der scheinbar abgetrennte Teil, das Ego, ist auf Selbsterhaltung ausgerichtet.

Wer sich wissenschaftlich mit der christlichen Theologie beschäftigt, muss sich anhand der Geschichte ernsthaft fragen, wie vielen Irrtümern und Fälschungen sie sich gegenübersehen. Organisierte Religion ist Fake-News, wie der Historiker Yuval Noaḥ Harari aus Israel treffend formulierte. Da das Christentum auf den Lehren von Paulus basiert, widerspricht es in vielen Punkten den Lehren Jesu, wie sie aus dem wieder aufgetauchten Thomas-Evangelium und Ein Kurs in Wundern hervortreten. Oberflächlich mag zur Verwirrung beitragen, dass der Kurs christliches Vokabular verwendet und als abweichende Variante des Christentums betrachtet werden könnte. Doch bei genauer Betrachtung und intensivem Studium sollte klar werden, dass der Kurs reinen Nicht-Dualismus lehrt.

Vom Thomas-Evangelium zu Ein Kurs in Wundern

Ein vollständiges Thomas-Evangeliums in koptischer Sprache, übersetzt aus einer griechischen Version, wurde 1945 in der ägyptischen Wüste als Teil der Nag-Hammadi Bibliothek ausgegraben. Es gibt einen Einblick in die ursprüngliche Lehre von Jesus, wobei zu beachten ist, dass diese späte Version abgeändert, ergänzt und verfälscht sein könnte. Thomas kam auf einer Reise nach Indien ums Leben und deshalb könnte sein Evangelium unvollständig geblieben sein. Es ist eine Zusammenstellung von Gleichnissen, die vom Apostel Thomas in aramäischer Sprache aufgeschrieben wurden. Es sind keine Aussagen über Wunderheilungen oder biografische Angaben über Jesus enthalten.

Zur Zeit von Jesus waren weite Teile des Mittelmeerraums vom römischen Reich besetzt. So lag auch in Palästina die zivile Gewalt bei den Römern. Die religiösen Autoritäten und die Glaubensausführungen des jüdischen Volkes waren geduldet, solange sie sich ruhig verhielten und die römische Staatsmacht nicht infrage stellten. Die römische Staatsmacht war in den besetzten Gebieten einer Diktatur ähnlich. Wer sich dagegen auflehnte oder nur schon in Verdacht geriet, mit einem möglichen Aufruhr in Verbindung zu stehen, musste mit gravierenden Konsequenzen, wenn nicht mit der Todesstrafe rechnen. Die jüdische Gesellschaft war stark patriarchal geprägt. Das Judentum war eine fundamentalistische Religion, denn auf Gotteslästerung bestand die Todesstrafe durch Steinigung, wenn sie vielleicht auch nicht so oft vollzogen wurde, wie man aufgrund von Überlieferungen vermuten könnte. In gesellschaftlichen wie religiösen Belangen hatten Frauen nichts zu sagen und sie hatten weniger Rechte als die Männer. Die Freiheiten im Palästina von damals waren ähnlich wie heute in einzelnen Ländern mit einer fundamentalistischen Religion unter autoritärer Herrschaft, wo Rede- und Meinungs- und Religionsfreiheit nicht existieren. Daraus lässt sich ableiten, dass es Jesus verwehrt war, Klartext zu sprechen, wollte er nicht Gefahr laufen, sich und seine Anhänger Gotteslästerung oder Anstiftung zu Aufruhr auszusetzen. Damit seine Formulierungen nicht als solche ausgelegt werden konnten, musste er sie in Gleichnisse verpacken und Symbole verwenden.

Als zentrale Aussage für das Verständnis seiner neuartigen Lehre erscheint der Kern aus Vers Nummer 22: "Wenn ihr aus zwei eins macht, wenn ihr das Innere wie das Äußere und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere macht und wenn ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, sodass das Männliche nicht mehr männlich und das Weibliche nicht mehr weiblich ist ... dann werdet ihr in das Himmelreich eingehen." Aus der Symmetrie der Begriffspaare kann folgende Bedeutung herausgelesen werden.

    zwei - eins: Dualismus - Nichtdualismus

    Innere - Äußere: Inhalt - Form, reps. geistig - körperlich

    Obere - Untere: Hierarchie, Rangordnung

    Männliche - Weibliche: Polarität, Gegensätze

Vers 22 beschreibt die Transformation vom Dualismus zum Nichtdualismus, was als Voraussetzung für das Eingehen ins Himmelreich dargelegt wird. Dualismus bezieht sich auf die Welt der Gegensätze von gut und böse, richtig und falsch, etc. mit all seinen scheinbar endlosen und unlösbaren Konflikten.

Die Welt der Dualität scheint eine Fehlschöpfung unseres eigenen kollektiven Geistes zu sein. Um sich daraus zu befreien, gibt es keine stellvertretende Erlösung. Unsere Fehlschöpfung kann uns nicht weggenommen werden. Angesprochen ist die Bereitschaft, die Fehlschöpfung aus eigenem Willen loszulassen, um rückgängig zu machen, was dem Himmelreich vorgezogen wurde. Dazu ist die geistige Schau zu erlernen. Geistige Schau erfordert, über Gegensätze hinweg zu sehen. Dies führt zur Auflösung der Täuschung durch die Form, so dass die Form den Inhalt nicht mehr verbergen kann, sondern ihn reflektiert, bis geistige Schau alles als gleich wahrnimmt. Eine Änderung der Form, die nur eine Wirkung ist, deren Ursache im Geist liegt, ist nicht erforderlich, kann aber eintreten als Folge der Heilung des Konflikts im Geist.

Jede Art von Hierarchiedenken und Rangordnungen müssen hinterfragt und losgelassen werden, bis alle und alles als gleichwertig betrachtet wird. Damit sagt uns Jesus, dass er gleich ist wie wir alle. Er ist nicht der eine Sohn Gottes und wir Menschen sind Wesen niederen Ranges. Ganz im Gegenteil sagt er damit, dass wir alle zusammen mit ihm auf geistiger Ebene der eine Sohn Gottes sind, der Christus, und als dieser eins mit Gott.

Der Geist ist weder männlich noch weiblich, weder gut noch schlecht, sondern das Einzige von Bedeutung und die Form ist letztendlich bedeutungslos, da Form ein Attribut der Welt ist. Über alle Unterschiede, die wahrgenommen werden, muss der Blick nach innen in den Geist gerichtet werden, so dass alle Unterschiede belanglos werden.

Das Himmelreich ist nicht zu verwechseln mit der Idee des Nichts oder der Leerheit anderer nicht-dualer Denksysteme. Ganz im Gegenteil, das Himmelreich ist Ausdruck vom Überfluss der Schöpfung Gottes, geht somit noch einen wesentlichen Schritt weiter und das zugrundeliegende Denksystem kann deshalb als reiner Nichtdualismus bezeichnet werden.

Vers 22 beschreibt die Idee des Weges vom Konkreten zum Abstrakten, von der konkreten dualen Alltagserfahrung mit all seinen Konflikten hin zum abstrakten Gewahrsein vollkommener Glückseligkeit des Himmelreichs. Authentische Verse widerspiegeln diesen Weg. Verse hingegen, die in der Dualität verhaftet bleiben, könnten später hinzugefügte Ergänzungen sein, was am folgenden Beispiel gezeigt wird.

Vers 114: Simon Petrus sprach zu ihnen: "Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig." Jesus sprach: "Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, dass auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen."

Dieser Vers widerspiegelt eine patriarchale Sichtweise. Männer werden den Frauen in diesem Vers generell als spirituell überlegen dargestellt. Beachtenswert ist, wie eine bestimmte beim Namen genannte Frau herabgesetzt und das generalisiert auf alle Frauen übertragen wird. Dieses Verhalten lässt sich heutzutage sozialpsychologisch leicht deuten. Es handelt sich um das Phänomen des Selbstwerterhalts. Wenn man sich jemandem gegenüber als minderwertig empfindet, kann man durch Herabsetzen dieser Person seinen Selbstwert wieder ausgleichen. Dieses Selbstwertmanagement ist empirisch gut belegt. Der Autor von Vers 114 muss sich also gegenüber Mariham als stark minderwertig empfunden haben. Da es hier im religiös-spirituellen Kontext geschieht, muss Mariham tatsächlich spirituell viel weiter entwickelt oder fortgeschritten gewesen sein als der Autor und möglicherweise auch als Jesu Jünger, weil Simon Petrus als Vergleichsperson herangezogen wird.

Bei Mariham handelt es sich um Maria Magdalena. Bei Matthäus 28,1 lesen wir, wie sie nach der Kreuzigung zum Grab ging, um den Leichnam zu salben. "Nach dem Sabbat aber, als es zum ersten Tag der Woche aufleuchtete, kamen Maria aus Magdala und die andre Maria, um das Grab zu besehen." Gemäß jüdischem Recht war es nur den engsten Familienangehörigen erlaubt, das Ritual der Salbung vorzunehmen. Diese Indizien deuten darauf hin, dass Maria Magdalena Jesu Ehefrau gewesen war, sie viel öfter und näher mit Jesus zusammen war als seine Jünger und als weitere Motivation für ihre Herabsetzung Eifersucht naheliegend erscheint.

Später erschien Jesus zuerst Maria Magdalena und danach den Jüngern. Das muss ein großer Schock gewesen sein, waren doch alle Zeugen von Jesu Tod gewesen. Wieder fällt auf, dass Jesus zuerst Maria Magdalena erschien, worauf sie die Jünger darauf vorbereiten konnte, dass er ihnen erscheinen würde. Dies ist ein weiterer Hinweis, dass Maria Magdalena gegenüber den Jüngern spirituell weit voraus gewesen sein musste, wenn sie nicht sogar die gleiche Ebene wie Jesus erreicht hatte, in welcher der Geist vollständig mit dem Heiligen Geist gleichgesetzt ist. Diese Gegebenheiten müssen weit herum gekannt gewesen sein, so dass sie von den Evangelisten nicht ignoriert werden konnten und in der einen oder anderen Form Eingang in die Evangelien gefunden hatten.

Vers 114 widerspiegelt Dualismus, während Vers 22 eine rein nicht-duale Sichtweise belegt und eine höhere Abstraktionsebene aufweist. Damit widersprechen sie sich gegenseitig. Gemäß verschiedenen Schilderungen hatte Jesus eine große weibliche Anhängerschaft; ein weiterer Hinweis, dass Jesus die Frauen erst nahm, wie Gleichwertige betrachtete und behandelte. Alle diese Indizien sprechen dafür, dass es sich bei Vers 114 um eine später hinzugefügte Verfälschung handelt und Jesus Worte in den Mund gelegt wurden, die er so nicht gesagt hatte, was zweifellos auf vieles im Neuen Testament zutreffen dürfte. Eine "Originalversion" des Thomas-Evangeliums wurde von Gary Renard im Buch Deine unsterbliche Realität veröffentlicht. Vers 114 ist darin nicht enthalten.

Ein Kurs in Wundern enthält Jesu vollständige Lehre, wie sie aus Vers 22 nur andeutungsweise hervortritt. Für Einsteiger mag der Kurs nicht einfach zu verstehen sein, doch er wird sich weiter verbreiten und vor allem ernsthaft Suchende auf dem spirituellen Weg ansprechen. Er ist wie eine Partitur, wie ein Notentext, den wir üben und anwenden müssen, um ihn von innen heraus lernen zu verstehen. Ihn allein intellektuell versuchen zu begreifen wird dies wahrscheinlich verhindern, denn erst aus der Anwendung erwächst das Verstehen. Wie bei einer guten Partitur werden wir über die Zeit hinweg immer weiter in die Tiefe vordringen. Langfristig wird sich Ein Kurs in Wundern wie Tschaikowskys erstes Klavierkonzert durchsetzen, indem immer mehr Interpreten auftreten werden, die diese Partitur wirklich verstanden haben und durch eigenes Lernen und Lehren vermitteln können. Diese Aufgabe scheint unter anderen mir zugefallen zu sein, weil alles Übrige am Wegbrechen ist. Bis es soweit ist, bin ich in Ausbildung, und wie immer wieder betont wird, ist der Kurs ein lebenslanger Weg.

Hinweis: Dieser Text steht als PDF im A4 Hoch- und Querformat zum Download bereit.

MEDEA, die verlorene Tochter © Bernhard Gerstenkorn
Alle Rechte vorbehalten 2024
Unterstützt von Webnode
Erstellen Sie Ihre Webseite gratis! Diese Website wurde mit Webnode erstellt. Erstellen Sie Ihre eigene Seite noch heute kostenfrei! Los geht´s